Laut lettischer Volkszählung von 1935 lebten zu diesem Zeitpunkt 3.839 Roma im Land. Unter der deutschen Besatzung von 1941 bis 1944/45 verblieb Lettland unter Zivilverwaltung und war Teil des Reichskommissariats Ostland (RKO).
Lettland
Ambivalente Politik gegen Roma
Die deutsche Politik gegen Roma in Lettland war sehr inkonsistent und ambivalent. Die Bandbreite der Verfolgung reichte von relativer Duldung in einigen Provinzen bis zur vollständigen Vernichtung in anderen. Einer der Gründe dafür ist darin zu sehen, dass die Gesetzgebung zu Roma im RKO während der gesamten Besatzungszeit im Fluss blieb. Der erste Massenmord fand am 5. Dezember 1941 statt, als die deutsche Sicherheitspolizei einhundert Roma aus Libau (Liepāja) erschoss. Infolgedessen erließ der Reichskommissar für das Ostland, Hinrich Lohse, am 24. Dezember einen sanktionierenden Erlass (rückdatiert auf den 4. Dezember, sodass der Massenmord in Libau legimitiert werden konnte, wie Michael Zimmermann überzeugend darlegt hat). In diesem Erlass werden »die im Lande umherirrenden Zigeuner« als gefährliche Elemente beschrieben, da sie angeblich Krankheiten verbreiteten sowie unzuverlässig und arbeitsfaul seien. Daher sollten sie »in der Behandlung den Juden gleichgestellt werden« – und das hieß: ermordet werden.
Breiter Entscheidungsspielraum
Die Tatsache, dass Lohse die ortsfesten »Zigeuner« nicht erwähnte – obwohl es sich bei den Roma, die in Libau umgebracht worden waren, um Stadtbewohner_innen gehandelt hatte –, überließ den untergebenen Behörden einen breiten Entscheidungsspielraum. Die deutsche Sicherheitspolizei in Lettland entschied, dass sesshafte Roma, die regulärer Arbeit nachgingen und bislang weder politisch noch kriminell auffällig geworden waren, wie die übrige Bevölkerung behandelt werden sollten. Die Ordnungspolizei nahm dagegen für gewöhnlich ohne Unterschied alle »Zigeuner« fest.
Massenmorde
Für die Zeit von 1942 bis 1943 sind mehr als ein Dutzend Massenmorde an lettischen Roma belegt. In manchen Provinzen, darunter Rositten (Rēzekne) und Windau (Ventspils), war die Vernichtung total. Hier wurde die gesamte Gemeinschaft der Roma ausgelöscht. Allein in Mitau (Jelgava) wurden 810 Roma erschossen. Mit Unterstützung der Ordnungspolizei und lokaler Hilfskräfte ermordete die deutsche Sicherheitspolizei etwa die Hälfte der lettischen Roma.
Wer überlebte, musste harte Restriktionen erdulden, wie beispielsweise die Beschlagnahmung des Besitzes, Polizeiüberwachung, Verbot von Ortswechseln und – so ist es zumindest in einem Fall belegt – Zwangssterilisation. Zeitgleich konnten Kinder aus sesshaften Roma-Familien in Talsen (Talsi) und anderen Teilen des Landes lettische Grundschulen besuchen. Die unvorstellbare Situation, dass in einigen Regionen Lettlands Roma-Kinder zur Schule gehen konnten, während in anderen die Massenmorde an den Roma unvermindert anhielten, war typisch für Lettland zur Zeit der deutschen Besatzung. Zukünftige Forschungen sollten sich auf diese Widersprüche konzentrieren.
Nicht Teil des offiziellen Gedenkens
Im Lettland der Nachkriegszeit waren die Opfer der Roma nicht Teil des offiziellen Gedenkens. Einzelne NS-Gräueltaten gegen Roma wurden in den Ermittlungen zu deutschen Verbrechen auf lettischem Boden erwähnt, sie spielten aber vor Gericht eine verhältnismäßig unbedeutende Rolle. Bislang existiert kein einziges Denkmal für die Ermordeten. 2015 wurde eine erste Sonderausstellung zu diesem Thema vom Roma Cultural Centre in der wissenschaftlichen Bibliothek der Universität Lettlands zu Riga präsentiert. Sie wanderte später weiter in andere lettische Städte.
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