Voices of the victims

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Niederlande

Karola Fings

Sinti leben seit dem Mittelalter, Roma seit dem 19. Jahrhundert in den Niederlanden. Sofern sie ein Wandergewerbe betrieben, zählte man sie im 20. Jahrhundert zu den woonwagenbewoners, die im Schaustellergewerbe, Handel oder Straßenbau ihren Lebensunterhalt bestritten. Bei der Volkszählung von 1930 wurden etwa 11.000 »Fahrende« registriert, nur wenige Hundert unter ihnen waren Sinti oder Roma.

Im Mai 1940 marschierte die deutsche Wehrmacht in die Niederlande ein. Auf Befehl Adolf Hitlers wurde eine deutsche Zivilregierung gebildet, der Arthur Seyß-Inquart als »Reichskommissar für die besetzten Niederlande« vorstand. Noch 1940 führten deutsche Besatzungsbehörden einen Ausweis für »Landfahrer« ein. Im Oktober 1941 begann die Registrierung aller woonwagenbewoners. Bis Juni 1942 wurden rund 10.000 von ihnen im Zentralen Bevölkerungsregister (Centrale Bevolkingsregister) aufgenommen.

Einrichtung von Sammellagern

1943 veranlasste der Befehlshaber der Sicherheitspolizei die Vertreibung aller Fahrenden aus dem Bereich um das Hauptquartier der deutschen Truppen in Hilversum, wenig später veranlasste der Höhere SS- und Polizeiführer, allen »Zigeunern« die Pferde wegzunehmen. Ab Juli 1943 war das Reisen in Wohnwagen generell verboten. Im Mai 1943 sollten die niederländischen Polizeistellen auf deutschen Befehl hin 27 Sammellager für 1.163 erfasste Wohnwagen einrichten. Die größten dieser Lager bestanden in Apeldoorn, Utrecht, s’Hertogenbosch, Tilburg, Groningen, Amersfort und Westerbork. Einige Familien ahnten, dass sie gefährdet waren, zogen in Wohnungen oder tauchten unter.

Von Westerbork nach Auschwitz

Die Maßnahmen des Jahres 1943 standen im Zusammenhang mit einem Befehl des Reichssicherheitshauptamtes vom 29. Januar, der ab dem 29. März 1943 auch für die Niederlande galt: Sinti und Roma waren in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zu deportierten. Die Umsetzung des Befehls erfolgte in den Niederlanden erst, nachdem die Deportation der Juden fast abgeschlossen war. Am 14. Mai 1944 gab der Generaldirektor der niederländischen Polizei die entsprechende Anweisung des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes weiter.
Am 16. Mai 1944 verbrachten Polizisten 578 Personen in das »Durchgangslager für Juden« in Westerbork. Bei den Festnahmen hatten Kriminal- und Militärpolizei sowie Gemeindebürgermeister augenscheinlich große Handlungsspielräume. Personen mit niederländischer Staatsangehörigkeit sollten von der Verhaftung ausgenommen sein, doch diese Bestimmung wurde nicht strikt beachtet. In Westerbork erfolgte unter deutscher Aufsicht eine Selektion, nach der 279 Personen als »arische Asoziale« herausgesucht und entlassen wurden. Übrig blieben 299 »Zigeuner«, von denen einige im Besitz italienischer, guatemaltekischer oder schweizerischer Pässe waren. Während die italienischen und guatemaltekischen Staatsangehörigen entlassen wurden, konnte die Schweizer Vertretung nur die Freilassung einer Familie erreichen.

Nur wenige überlebten

Am 19. Mai 1944 verließ ein Zug mit 245 Sinti und Roma das Lager Westerbork. Er traf am 21. Mai 1944 als einer der letzten in dem »Zigeunerfamilienlager« in Auschwitz-Birkenau ein. 72 Männer und Jungen wurden als »arbeitsfähig« selektiert und in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht, 35 Frauen und Mädchen nach Ravensbrück deportiert. Während die Verbliebenen im Lager starben oder in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in einer der Gaskammern ermordet wurden, überlebten von den aus Auschwitz in andere Lager Deportierten 16 Frauen und 14 Männer.
Die Deportation und Ermordung der Sinti und Roma blieb lange unbeachtet. Ende der 1970er Jahre erschien eine erste Publikation zu diesem Thema. 1994 deckte ein niederländischer Journalist auf, dass auf der Filmsequenz, die einen Deportationszug aus Westerbork zeigt, kein jüdisches Mädchen, sondern das Sinti-Mädchen Settela Steinbach zu sehen ist. Große Aufmerksamkeit erhielt Zoni Weisz, der versteckt überlebt hatte, als er im Januar 2011 als erster Sinto auf der zentralen Gedenkveranstaltung zum 27. Januar – dem Gedenktag zur Erinnerung an alle Opfer des Nationalsozialismus – im Deutschen Bundestag sprach. In sechs niederländischen Gemeinden gibt es Denkmale für die deportierten Sinti und Roma.

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