1939 lebten gemäß den Erhebungen der Volkszählung 88.242 »Zigeuner« in der Sowjetunion, davon 61.262 in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR). Die Roma gehörten zu den kleinsten Minderheiten, waren in den 1920er und 1930er Jahren jedoch Teil des sowjetischen Förderprogramms für »rückständige Nationalitäten«. Roma-Aktivist_innen riefen die »Allrussische Zigeuner-Union« (1925−28) ins Leben, schufen ein Romanes-Alphabet, um Zeitschriften und Bücher publizieren zu können, gründeten das berühmte Moskauer »Staatliche Zigeunertheater ›Romėn‹« (1931) und propagierten den Aufbau einer »nationalen Zigeunerkolchosen-Bewegung«. Die Einrichtung derartiger Kolchosen war allerdings nur in einigen wenigen Gegenden der RSFSR erfolgreich, etwa in Smolensk und dem nördlichen Kaukasus.
Russland
Besatzung: Zwischen Zwangsarbeit und Mord
Im Zuge der deutschen Invasion der Sowjetunion ab dem 22. Juni 1941 wurde nur ein Teil der RSFSR besetzt. Dies betraf allerdings auch die dort lebenden Roma. Aufseiten der Sowjetunion traten tausende junge Roma der Roten Armee bei. Einige von ihnen erlangten hohe militärische Auszeichnungen.
Aufgrund ihrer Frontnähe blieben die besetzten Gebiete der RSFSR der deutschen Militärverwaltung unterstellt. Die Wehrmacht teilte das riesige Gebiet in drei Heeresgebiete ein: Nord, Mitte und Süd. In den meisten offiziellen Befehlen unterschieden die Kommandanten der Wehrmacht zwischen »sesshaften« und »umherziehenden Zigeunern«. Während erstere unter Beobachtung zu stellen seien und für Arbeitseinsätze herangezogen werden sollten, seien letztere festzunehmen und der Sicherheitspolizei »zur weiteren Behandlung« (das heißt Ermordung) zu übergeben.
Systematischer Massenmord
Bereits während der ersten Monate der Besatzung kam es zu einzelnen Gräueltaten gegenüber russischen Roma vonseiten einiger Einheiten der Wehrmacht sowie der Sicherheitspolizei. Doch erst im Frühjahr 1942 erreichte der Massenmord systematischen Charakter. Damals stieg die Zahl der »Zigeuneraktionen« in allen drei Heeresgebieten sprunghaft und ohne Rücksicht auf die Sesshaftigkeit an. In ethnisch gemischten Kolchosen wurden Roma akribisch selektiert und erschossen. Am besten ist dieses Vorgehen für das Gebiet Smolensk dokumentiert.
Ein spezieller Fall ist der tiefe Süden der RSFSR, wo die »Einsatzgruppe D« der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes bereits im Herbst 1941 damit begann, die Roma-Bevölkerung ohne jegliche Differenzierung zu ermorden. Im Dezember 1941 erreichten die mobilen Tötungseinheiten die Krim. Dort verlief die Massenvernichtung von Roma und Juden beinahe parallel.
Die Ermittlung der ungefähren Zahl der Roma-Opfer in Russland ist noch nicht abgeschlossen. Gegenwärtige Schätzungen schwanken zwischen 4.000 und 20.000.
Außerordentliche Staatliche Kommission
Nach dem Krieg kam die Außerordentliche Staatliche Kommission der RSFSR in ihren Untersuchungsberichten zu dem Schluss, dass die deutschen Invasoren versucht hatten, Juden und »Zigeuner« vollständig zu vernichten. Diese Erkenntnis hatte jedoch keinen Einfluss auf die offizielle Gedenkkultur in der Sowjetunion. Verschiedene Opfergruppen wurden unter der allgemeinen Bezeichnung »friedliebende Sowjetbürger« zusammengefasst.
Gedenkinitiativen
Das Moskauer Theater Romėn versuchte, mit einigen Theaterstücken den Opfern und Kriegsheld_innen aufseiten der Roma zu gedenken, und unterstützte in den 1980er Jahren die Errichtung eines Mahnmals in Aleksandrovka nahe Smolensk. Die Inschrift auf diesem Mahnmal ist leider im typischen Stil der Sowjetunion gehalten, was bedeutet, dass die ethnische Identität der 176 Roma-Opfer, die im April 1942 von SS-Angehörigen getötet worden waren, nicht erwähnt wird.
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