Die Schweiz war während des Zweiten Weltkrieges ein neutraler Staat. Dennoch wurden zahlreiche Sinti und Roma Opfer einer »Zigeunerpolitik«, die seit der Gründung des Schweizerischen Bundesstaates im Jahr 1848 zu einer weitgehenden Vertreibung von Sinti und Roma aus dem Land geführt hatte. Während des Nationalsozialismus gipfelte diese Politik in der Abschottung der Grenzen für Roma und Sinti, die vor Verfolgung flohen, und − sofern eine Einreise gelungen war − gar in ihrer Auslieferung an das Deutsche Reich.
Schweiz
Sperrung der Grenzen und Ausweisungen
Mit dem Heimatlosengesetz von 1850 gerieten generell Fahrende, die ein ambulantes Gewerbe ausübten, in das Blickfeld staatlicher Behörden. Dies betraf zum einen die große Gruppe der in der Schweiz beheimateten Jenischen, deren Identität geprüft wurde, um sie dann einer Schweizer Gemeinde zuzuweisen. Dort erhielten sie zwar ein Bürgerrecht, wurden aber in ihrer Berufsausübung stark diskriminiert. Die deutlich kleinere Gruppe von Sinti und Roma erklärte man andererseits zu unerwünschten »Nicht-Schweizern« und wies sie aus. Ab 1906 wurden die Grenzen für ausländische Jenische sowie Sinti und Roma endgültig gesperrt. Zugleich erging ein Verbot, »Zigeuner« per Eisenbahn oder Schiff zu transportieren. Noch vor dem Ersten Weltkrieg entstand eine polizeiliche »Zigeunerregistratur«. 1914 wurden in der Schweiz anwesende »Zigeuner« interniert und des Landes verwiesen. Dies führte dazu, dass nur sehr wenige Sinti- und Roma-Familien überhaupt in der Schweiz lebten. Erst 1972 wurde die Grenzsperre für »Zigeuner« aufgehoben.
Rassistische Bevölkerungspolitik: Kindeswegnahmen bei Jenischen
Die Diskriminierung von Sinti und Roma sowie Jenischen fand vor dem Hintergrund eines in der Schweiz weithin akzeptierten eugenischen Diskurses statt. »Vagantentum« wurde als schädlich angesehen und sollte durch Zwangssterilisationen und Umerziehungsmaßnahmen bekämpft werden. Besonders betroffen waren die Jenischen. Das 1926 gegründete »Hilfswerk Kinder der Landstraße«, eine Abteilung der schweizerischen Stiftung »Pro Juventute«, nahm bis 1972 rund 600 Kinder zwangsweise aus Familien der Jenischen weg und brachte sie in Heimen oder bei Pflegefamilien unter. Erst nachdem diese Praxis in einer Artikelserie skandalisiert wurde, musste das »Hilfswerk« 1973 seine Arbeit einstellen.
Verweigerte Einreise und Auslieferung an das Deutsche Reich
Die Grenzen blieben trotz der unübersehbaren Bedrohung von Sinti und Roma an Leib und Leben auch seit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges dicht. Zahlreiche Familien wurden wochen- oder monatelang zwischen Frankreich oder Italien und der Schweiz hin- und hergeschoben. Ein prominenter Fall ist der des Jazzgitarristen Django Reinhardt, dem eine Flucht gelang, der jedoch wieder nach Frankreich ausgewiesen wurde. Wie viele Fluchtversuche von Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich an der Schweizer Grenze scheiterten, ist nicht bekannt. Selbst als Sinti und Roma mit schweizerischer Staatsangehörigkeit eine Deportation in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau drohte, setzten sich Schweizer Diplomaten − wie im Fall von Schweizer Juden − nicht für deren Freilassung ein. Dies war bei in den Niederlanden festsitzenden Familien der Fall, die in das Sammellager Westerbork eingeliefert worden waren und die durch eine Intervention hätten gerettet werden können. Besonders dramatisch sind die Fälle, bei denen vor der Verfolgung fliehende Sinti und Roma das rettende Ufer erreichten, von Schweizer Behörden jedoch wieder an das Deutsche Reich ausgeliefert wurden.
Unabhängige Expertenkommission Schweiz − Zweiter Weltkrieg
Erst in den 1990er Jahren begann eine breite öffentliche Diskussion über die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges. Am Anfang stand der Skandal um Vermögen, das jüdischen Verfolgten gehört hatte und nach 1945 nicht an die rechtmäßigen Erb_innen der Ermordeten übergeben worden war. Im Rahmen der von 1996 bis 2001 tätigen Expertenkommission wurde erstmals auch die schweizerische »Zigeunerpolitik« während des Nationalsozialismus untersucht.
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