Voices of the victims

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Die Anzahl der Opfer

Karola Fings

»Wir fordern, dass die Roma-Märtyrer_innen von Auschwitz gerächt werden, aber nicht durch die Barbarei der Wut, sondern durch die Hand der Justiz. Wird es für uns jemals einen Alliierten Gerichtshof geben, der die Bestrafung dieser Monster, dieser Meuchelmörder von 500.000 Sinti* und Roma*, einfordert?«

Matéo Maximoff

In dieser − hier stark gekürzt wiedergegebenen − Passage fordert der französische Rom Matéo Maximoff (1917−1999) schon kurz nach der Befreiung eine Bestrafung der Täter. Sein in dem Journal of the Gypsy Lore Society im Jahr 1946 publizierter Beitrag »Germany and the Gypsies: From the Gypsy’s Point of View« zählt zu den frühesten Zeugnissen über den an Sinti und Roma begangenen Völkermord. Besonders bemerkenswert ist, dass Maximoff die Anzahl der Opfer mit 500.000 angibt. Dies ist nach dem derzeitigen Kenntnisstand das erste Mal, dass diese Ziffer in einem international rezipierten Medium genannt wird.

»500.000« als symbolische Zahl

Die Zahl »500.000« fand rasch Verbreitung. Früh griff sie beispielsweise der jüdische Überlebende und Historiker Philip Friedman auf, der seit 1950 in mehreren Beiträgen für europäische und englischsprachige Zeitschriften über die Verfolgung von Sinti und Roma unter dem Nazi-Regime berichtete. Die Schlagzeile eines Artikels, den Friedman am 24. März 1951 in einer in Toronto erschienenen Zeitung schrieb, lautete: »The Fate of 500,000 Gipsies«. Eine halbe Millionen Opfer − diese Größenordnung veranschaulichte die Grausamkeit und das Vernichtungspotenzial der NS-Verfolgung, und sie korrespondierte semantisch mit den sechs Millionen, auf die bereits 1945 die Anzahl der jüdischen Opfer geschätzt worden war. Sie wurde in den folgenden Jahren von Bürgerrechtsbewegungen aufgegriffen und popularisiert. Vor allem der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma brachte immer wieder den Hinweis auf 500.000 NS-Opfer aus der Minderheit an, um an die historische Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland zu appellieren und seinen politischen Forderungen Gehör zu verschaffen. So wurde die Ziffer zu einem Symbol für das in der Öffentlichkeit jahrzehntelang kaum beachtete Leid der Sinti und Roma unter dem NS-Regime.

Historische Forschung

Bis heute ist die genaue Anzahl der Opfer nicht bekannt. Schon in dem über viele Jahre als Standardwerk geltenden Buch der britischen Autoren Donald Kenrick und Grattan Puxon, »The Destiny of Europes Gypsies« (London 1972, deutsch l981 unter dem Titel »Sinti und Roma. Die Vernichtung eines Volkes im NS-Staat«), wurde die Zahl 500.000 in Zweifel gezogen. Die Autoren kamen anhand der damals greifbaren Literatur zu einer Schätzung von rund 220.000 Opfern. Der deutsche Historiker Michael Zimmermann, der 1996 mit »Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische ›Lösung der Zigeunerfrage‹« ein weiteres Standardwerk vorlegte, listete die seiner Meinung nach gesicherten Opferzahlen auf. Bewusst vermied er dabei eine Addition der Ziffern, weil das Ergebnis aufgrund zahlreicher Forschungslücken nicht der tatsächlichen Anzahl der Opfer entsprechen konnte. Dennoch griffen andere Historiker diese Schätzung auf und nannten eine Opferzahl von »mindestens 90.000«. In der Forschung wird heutzutage meist die Anzahl von 200.000 als ungefährer Richtwert verwendet, auch wenn die empirische Grundlage dafür immer noch lückenhaft ist und sie durch weitere Forschungen nach oben korrigiert werden könnte. Zahlenangaben von bis zu 1,5 Millionen Opfern, wie sie von einigen Roma-Aktivist_innen genannt werden, sind, so viel kann mit Sicherheit festgestellt werden, nicht haltbar.

Fehlende Verantwortung

Wie kommt es, dass auch mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Anzahl der NS-Opfer unter den Sinti und Roma immer noch nicht festgestellt worden ist? Dafür sind verschiedene Gründe zu nennen. Zuallererst muss auf das fehlende politische Interesse verwiesen werden, das dazu geführt hat, dass die jeweiligen Staaten – allen voran die Bundesrepublik Deutschland − keine nennenswerten Aktivitäten entwickelt haben, dieser Frage nachzugehen. Was bis heute fehlt, ist eine gemeinsame Anstrengung aller Länder, in denen Roma-Opfer zu beklagen waren, um Forschungen zu initiieren und zu unterstützen. Es liegt nicht in der Verantwortung der Opfer, die Verbrechen der Täter aufzuklären.

Nicht festzustellende Zahlen

Generell steht die Forschung bei der Bearbeitung dieser Frage vor großen Problemen. Während im Deutschen Reich inklusive des angeschlossenen Österreichs und des Protektorats Böhmen und Mähren der Deportation in die Vernichtungslager eine beinahe lückenlose Erfassung aller Sinti und Roma vorausging und die Opferzahlen daher statistisch genauer zu fassen sind (zum Beispiel für Österreich, wo 9.500 von 11.000 Roma ermordet wurden), ist für viele Länder von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Dies hat mehrere Gründe. Für zahlreiche Länder ist nicht bekannt, wie viele Roma tatsächlich vor dem Zweiten Weltkrieg dort lebten und wie viele von ihnen überleben konnten. Viele Roma, die allein deshalb ermordet wurden, weil sie Roma waren, erschienen nach 1945 nicht in offiziellen Opferstatistiken als Angehörige der Minderheit, sondern als Angehörige der jeweiligen Nation. Hinzu kommt, dass eine hohe, aber kaum zu schätzende Zahl von Roma in Europa Opfer von Massakern wurden, die vor allem SS-Einsatzgruppen, aber auch Wehrmachtsoldaten, Polizeieinheiten oder Mordkommandos der faschistischen Verbündeten und Kollaborateure verübten. Die meisten Opfer dieses »Holocaust durch Kugeln« blieben namenlos und ungezählt. Wie die Recherchen und Grabungen der französischen Organisation »Yahad – In Unum« in mehreren osteuropäischen Ländern zeigen, werden bis heute immer wieder bislang unbekannte Massengräber entdeckt, in denen auch Roma beigesetzt sind. Ebenfalls zu berücksichtigen ist, dass die Täter das Mordgeschehen verschleierten und entweder keine Aufstellungen über die Opfer anlegten oder vorhandene Dokumente mit Namen von Opfern angesichts des Kriegsendes vernichteten, um die Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen. Vor diesem Hintergrund werden auch weitere Forschungen nie zu einem genauen Ergebnis kommen, sondern allenfalls Näherungswerte angeben können. Dennoch ist es wichtig, sich dieser Aufgabe zu widmen – dies schuldet die Gesellschaft den Opfern.

Ein komplexes Bild

Das Projekt »Voices of the Victims« verzichtet bewusst auf eine Zahlenangabe. Erstens konnten im Rahmen des Projektes keine neueren Forschungen zu dieser Thematik angestrengt werden. Zweitens umfasst das Projekt nicht alle europäischen Länder, in denen Sinti und Roma NS-Verbrechen zum Opfer fielen. Zudem ist eine rein quantitative Fragestellung nicht sinnvoll, wenn es darum geht, zu zeigen, was der Völkermord für die Betroffenen bedeutete. »Voices of the Victims« zeigt in erster Linie anhand einzelner Beispiele, wie vielgestaltig und unterschiedlich die Verfolgung in den verschiedenen Ländern verlief, was dies für die Betroffenen bedeutete und mit welchen Überlebensstrategien sie dem Vernichtungsdruck begegneten.

Drohende physische Vernichtung

Das konkrete Verfolgungsgeschehen war abhängig von der vorherigen staatlichen Politik der besetzten oder kollaborierenden Länder, es war abhängig von den Besatzungsinteressen der deutschen Herrschaftsträger sowie von den Machtverhältnissen zwischen Besatzern und Besetzten, und es entwickelte sich innerhalb oft divergierender Interessen unterschiedlicher Beteiligter vor dem Hintergrund eines sich radikalisierenden Kriegsgeschehens. Die Bandbreite der NS-Politik zeigt sich an Beispielen wie Litauen, wo die Roma-Bevölkerung fast vollständig ermordet wurde, und Frankreich, wo die überwiegende Mehrheit der Sinti und Roma in Internierungslagern überleben konnte. Und doch waren auch die Sinti und Roma in Frankreich so lange an Leib und Leben bedroht, wie das Deutsche Reich noch nicht militärisch besiegt war. Beispiele anderer Länder – etwa die Niederlande − zeigen, dass die deutschen Machthaber immer dann die Deportation der Sinti und Roma in Angriff nahmen, wenn die Deportation der jüdischen Bevölkerung weitgehend abgeschlossen war. Wenn es um die Opfer des Völkermordes geht, dann sprechen wir daher nicht allein von den tatsächlich Ermordeten. Der Erfahrung, dass die physische Vernichtung droht, waren Hunderttausende Sinti und Roma ausgesetzt. Sie überlebten allein deshalb, weil Angehörige von Widerstandsbewegungen und die alliierten Soldat_innen − unter ihnen auch Sinti und Roma − das NS-Regime zur Kapitulation zwangen.

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