Perspektive der Betroffenen
»Voices of the Victims« ist ein Pilotprojekt. Es erzählt zum ersten Mal die Geschichte des Völkermordes an der Minderheit der Sinti und Roma ausschließlich aus der Perspektive der Betroffenen. Dabei konzentriert sich das Projekt auf Quellen, die während oder kurz nach der Verfolgung entstanden sind. Auch damit betritt »Voices of the Victims« Neuland. Diese frühen Quellen sind sehr selten, doch sie haben aufgrund der zeitlichen Nähe zu der erlebten Verfolgung eine besondere Anschaulichkeit und eine Intensität, die das erfahrene Leid auf eine auch heute noch anrührende Art und Weise veranschaulicht. Die Stimmen der Opfer sind zugleich ein beeindruckendes Zeugnis der Selbstbehauptung im Angesicht der Vernichtung.
Europäische Dimension des Völkermordes
»Voices of the Victims« zeigt die europäische Dimension des Völkermordes am Beispiel von zwanzig Ländern: Belarus | Belgien | Bosnien und Herzegowina | Deutschland | Estland | Frankreich | Italien | Kroatien | Lettland | Niederlande | Österreich | Polen | Rumänien | Russland | Schweiz | Serbien | Slowakei | Tschechien | Ukraine | Ungarn. Vierzehn Wissenschaftler_innen aus Europa haben sich an dem Projekt beteiligt, um Hintergrundinformationen zu dem jeweiligen Land zu liefern und Quellen aus der Perspektive der Opfer zusammenzutragen. Diese europäische Dimension ist aus zwei Gründen wichtig: Zum einen ist in vielen Ländern bis heute das Bewusstsein darüber, dass Sinti und Roma Opfer eines systematischen Völkermordes wurden, kaum ausgebildet. Zum anderen waren Art und Ausmaß der Verfolgung in den jeweiligen Ländern sehr unterschiedlich, sodass nur in europäischer Perspektive die Fülle der Gewalt- und Tötungsverbrechen, denen Sinti und Roma ausgesetzt waren, angemessen repräsentiert werden kann.
Fortgesetzter Rassismus und ungesühnte Verbrechen
Die Überlebenden waren nach 1945 mehrfach gezeichnet. Sie hatten nicht nur mit den eigenen traumatischen Verfolgungserfahrungen zu leben und die Trauer um ihre Angehörigen zu bewältigen. Das Begründen einer neuen Lebensperspektive wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass die Mehrheitsgesellschaft ihnen weiterhin überwiegend feindlich gesinnt entgegentrat und die Täter_innen eine Anerkennung und Entschädigung systematisch verhinderten. Die verweigerte Anerkennung und die Fortsetzung der Diskriminierung standen dabei in einem engen Zusammenhang; beides diente der Vertuschung der Schuld und der Verhinderung einer Strafverfolgung. So blieben die meisten Verbrechen ungesühnt.
Das Trauma der Verfolgung
Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma in Europa markiert in der Geschichte der Minderheit einen tiefen Bruch. Mit der Verfolgung und Ermordung von Hunderttausenden Männern, Frauen und Kindern wurden Biografien und Lebensperspektiven auch der Überlebenden und ihrer Nachkommen zerstört. Im Bewusstsein von Sinti und Roma ist diese Erfahrung fundamental. Sie ist bis heute Grundlage für politische Aktivitäten, die sich gegen Diskriminierung wenden, und findet auch in künstlerischen Zeugnissen einen vielfältigen Ausdruck.
Editorische Anmerkung
Im Mittelpunkt von »Voices of the Victims« stehen Briefe, Zeugenaussagen und Berichte aus der Perspektive von Sinti und Roma. Die Dokumente werden als Digitalisat im Original gezeigt. Dazu gibt es eine Transkription des Dokumentes. Etliche Transkripte sind behutsam korrigiert worden, um ihre Lesbarkeit zu erhöhen. Solche Eingriffe in den Originaltext sind mit [eckigen Klammern] gekennzeichnet. Die derart bearbeitete Version ist die Grundlage für die Übersetzungen. Jedem Dokument ist ein Kommentar beigegeben, der es in den Kontext der Verfolgung einordnet und zusätzliche Informationen bietet, die für das Verständnis notwendig sind.
In manchen der in verschiedenen Sprachen vorliegenden Dokumente wird der Begriff »Zigeuner« auch von Angehörigen der Minderheit selbst verwendet. Angesichts des Wandels in Selbstwahrnehmung und Positionierung von Sinti und Roma in den letzten Jahrzehnten ist es denkbar, dass die Betroffenen selbst diesen Begriff heutzutage nicht mehr verwenden würden. Zum anderen nehmen Leser_innen sowie Hörer_innen die Texte vor dem Hintergrund des heutigen Wissens wahr. Da »Zigeuner« ein stigmatisierender Begriff ist, ist hier eine Intervention vorgenommen worden. Bei der Transkription wird der Begriff beibehalten. In den Übersetzungen (ins Deutsche, Englische, Romanes) ist das Z-Wort – je nach Land, Gruppe und Sprechenden − jedoch durch Roma*, Sinti* oder Roma* und Sinti* beziehungsweise Sinti* und Roma* ersetzt worden. Bei der Vertonung der Dokumente wird »Zigeuner« nur dann gesprochen, wenn das Wort aus der Perspektive der Verfolger verwendet wird.
Um die individuellen Geschichten, die mit den Dokumenten repräsentiert werden, einordnen zu können, gibt es außerdem zu jedem Land einen einführenden Text. Darin werden die Grundzüge der Verfolgung dargestellt und es wird auf weiterführende Literatur verwiesen. Ausgangspunkt der Ländertexte sind die heute existierenden Staaten, wobei zu berücksichtigen ist, dass die politische Landkarte während der Jahre 1933 bis 1945 eine andere war.
Im Rahmen des Projektes war es nicht möglich, jedes Land, in dem Sinti und Roma während des Zweiten Weltkrieges von Verfolgung betroffen waren, zu bearbeiten. Wie ausgesprochen mühsam die Recherche nach frühen Zeugnissen der Verfolgung ist, hat sich im Verlauf des Projektes gezeigt, denn nicht für alle bearbeiteten Länder konnten die erhofften drei Dokumente gefunden werden. Dies wurde dadurch kompensiert, dass manche Länder mit zusätzlichen Dokumenten repräsentiert sind, sodass »Voices of the Victims« mit einem Quellenkorpus von mindestens 60 Dokumenten starten kann. Es ist zu hoffen, dass das Ergebnis viele Menschen davon überzeugt, solchen Zeugnissen eine größere Aufmerksamkeit zu widmen als bisher und die hier präsentierte Sammlung nach und nach zu erweitern.
Romanes Übersetzung
Innerhalb des Archivbereichs »Voices of the Victims« sind alle Einführungstexte, Dokumente, Kommentare und Ländertexte zunächst von Sarita Jašarova oder Sejdo Jašarov aus dem Englischen ins Romanes übersetzt worden. Diese Übersetzung hat anschließend Ruždija Russo Sejdović bearbeitet, und zwar dahingehend, dass er eine gemäßigt standardisierte Romanes-Form verwendet. Die standardisierte Form wurde bewusst gewählt, da im Romanes verschiedene Dialekte existieren und auf diesem Weg für einen möglichst breiten Kreis eine möglichst hohe Verständlichkeit der Texte hergestellt werden kann. Für die Audioaufnahmen der Dokumente haben Perjan Wirges und Nedjo Osman wiederum eine eigene Bearbeitung der Erstübersetzung erstellt.