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Die Fahrenden, flüchtig : Zu den Gedichten von Ilija Jovanović

Elfriede Jelinek | Die Fahrenden, flüchtig : Zu den Gedichten von Ilija Jovanović | prose | lit_00588

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Die Fahrenden, flüchtig.
(zu den Gedichten Ilija Jovanovićs)

Es gibt Dinge, die man, sind sie aus einer Packung herausgeschüttet worden, nicht mehr wieder dorthin hineinkriegen kann (bei Flüssigkeiten funktioniert das überhaupt nie). Ich weiß nicht, wie ein Rom, eine Romni ihr Zuhause definieren, ob da, auch wenn sie seßhaft sind, die Roma, nicht diese Fremdheit bleibt, dieses Gefühl, zwar gesammelt zu sein als ein Volk, aber nirgendwohin wieder zurückgeräumt werden zu können, was aber ständig von diesem Volk verlangt wird. “Beide Welten mögen mich nicht / die aus der ich komme / und die / in die ich geraten bin.” Es soll wohin zurück, wo es hergekommen ist, aber dieses Volk ist soviel umhergewandert, daß es nirgendwohin zurückzubringen ist. Man kann es nicht zusammenhalten. Es verändert sich, es kreuzt unser Leben an den Peripherien der Städte, meist wird den Menschen ein Platz zugedacht, immer öfter nicht, denn offenbar kennt das Wirtsvolk (in Österreich: das Volk, das gern die Wirte aufsucht) keinen Abstand zum anderen, anerkennt keinen Abstand, den es nicht durchkreuzen kann. Einen Abstand, der bedeutet, jemanden auf seinem Weg mitzunehmen, kennt der Ansässige nicht, vielleicht weil er zuviel oder zu tief sitzt.

Diese Gedichte von Ilija Jovanović handeln auch von Fremdheit: “Wo immer ich hinkomme”. Da ist Wind, der einem willkürlich und kalt ins Gesicht fährt, der einem ins Haar greift und es durcheinanderbringt. Die Fremdheit ist im eigenen Haus, und das eigene Haus sind andere, denen man auch fremd ist. Und nicht einmal sagen soll man, daß man hier zu Hause sein könnte. Da werden Koffer ein- und ausgepackt, hier geöffnet oder woanders. Die Menschen zerstreuen sich in alle Richtungen. Narben tragen Menschen “von Messern / Glassplittern / spitzigen Dornen / Worten und Blicken”. Das Ausbreiten der Äste wird einem Baum untersagt, er soll zurück in seine Wurzeln, so wie ein Volk von Wanderern, von “Fahrenden”, sich in seine Schale zurückziehen muß, weil es gezwungen wird, an allem zu zweifeln, was als Behausung gelten könnte. Und was für ein Haus wäre das?: “Ich schweige / auch die Wände sind stumm / und taub / niemand klopft an / unsere Tür. / Stille.”

Als würde man in einem lichtlosen Raum leben, den man auch Traum nennen könnte, wobei das Erwachen aus dem Traum noch dunkler ist als der Traum selbst, als würde man von einem dunklen Raum in den nächsten, noch dunkleren, geworfen. “Die Verachtung steckt mir / bis heute in den Knochen.” Die Verachtung. Hier besonders beliebt und oft erprobt. Da gibt es keine Gnade und keine Berufung. Man ist nicht gerufen, aber dafür fühlen sich andre berufen, über einen zu bestimmen. Staatspräsidenten westlicher Länder transportieren die sogenannten Fremden, die Nichtsesshaften, die Armen, die sich nicht erhalten können (und von uns erhalten sie auch nichts) ab, damit die ihnen keinen Platz wegsitzen und auch sonst nichts wegnehmen. Man kann Verachtung nicht beeinspruchen, und man kann gegen sie nicht berufen. Man hat kein Recht gegen die Verachtung, mit der immer die anderen Recht bekommen, auch wenn sie nicht recht haben. Es ist immer eine Degradierung: Die Mülltrennung wird verlangt, die Totentrennung aber wird praktiziert, da sitzt Einer zur Rechten Gottes (Hebräer 1,3), um zu richten die Lebenden wie die Toten. Was die Toten machen, das wissen wir nicht, aber die einen Lebenden, die werden es sich schon richten, die wissen, wies geht, und die andren, die dürfen vielleicht bei Gott sitzen, wenn der sich einmal bequemt, ordentlich zu richten, bei uns sitzen die aber nicht. Oder sie müssen sitzen gehen, wie man sagt, bei uns. Irgendein Gott mag sie also aufnehmen, ohne daß das eigens von ihm verlangt werden müßte. Es ist seine Pflicht. Er tut nichts andres. Worauf wir keinen Einfluß nehmen können, das müssen wir dulden, wenn auch nicht hier. Für unsere sogenannte Ordnung haben unsere Subjekte ein Gefühl entwickelt, aber diese Subjekte, die wir verjagen, deren Richtung soll immer nur: weg von uns sein, egal auf welchem Weg. Das erzeugt bei uns das Gefühl, daß wir uns in unserer Welt zurechtfinden, indem wir uns von andren abgrenzen, die das nie lernen werden, seßhaft zu sein, aber wenn sie es gelernt haben, dann sollen sie es nicht ausgerechnet bei uns üben, bis sie es endlich können. Dafür haben wir unsere “Ordnung” ja gemacht, daß kein andrer sich in ihr zurechtfinden kann. Da wird keine Welt zur Verfügung gestellt, denn in ihr könnten sich ja auch andre orientieren. Die Verachtung kann sich als von der Mehrheit verlangt betrachten, sie wird ja auch von so vielen gewollt, wie ein gesundes Naturprodukt. Die Verachtung ist etwas Naturwüchsiges, sie wächst bei uns und verbietet dafür anderen das Aufwachsen. Kein Einspruchsrecht. Die Lebenden trennen ihre Toten, so wie sie den Müll trennen. Diejenigen, die sie, in der Verachtung des Fremden, als Müll betrachten, werden nicht getrennt, sie werden gleich ganz ausgesondert. Der Müll muß ja irgendwohin, die Fremden sollen auch irgendwohin, wo nichts als das Nichts auf sie wartet, das Schicksal unseres Mülls ist, daß wir nicht sehen müssen, was mit ihm passiert. Wir haben ihn ja entsorgt, damit er uns keine Arbeit mehr macht. Dieses Weg-Sein soll ein Nicht-Sein werden, damit keine Reste zurückbleiben, bei denen man sich sehr wohl wieder die Mühe des Trennens machen müßte. Lebenslänglich heißt im Fall der Roma: “zu sein was wir nicht sein wollen”. Aber auch da: kein Einspruchsrecht, dafür, als Unberührbarer, dem Urteil der Berührbaren unterworfen, die sich allerdings durch nichts berühren lassen. Der Lyriker sieht das: “Ramsch bin ich / verbraucht und rostig / neidisch auf den Glanz / des Silbers und des Goldes / und das strahlende Blühen der Rose …”

Da ist dieser lichtlose Raum, in dem wir, die Mehrheit, unter der Minderheit aufräumen wollen, obwohl wir in diesem Zimmer überhaupt nichts sehen können. Indem wir andre ausschließen und vertreiben, sind wir selbst in einer Leere, die keine Begrenzung mehr kennt. Wir haben einmal gewußt, wo die Dinge sind, aber jemand andrer muß in unserer Abwesenheit dort “aufgeräumt”, mit jemandem aufgeräumt, haben, sodaß wir plötzlich in äußerster Unordnung leben, denn diese Leere ist die größte Unordnung, in der man keinen Gegenstand mehr fassen kann, sobald er nur ein wenig verrückt worden ist. Dabei ist es unser Raum. Wir kennen ihn doch! Nur weil jemand das Licht abgedreht hat (wahrscheinlich wir selbst), sollen wir uns plötzlich bei uns nicht mehr auskennen? Das wäre ja gelacht! Wieso lacht denn keiner? Es würde ein Geringfügiges genügen, daß wir uns bei uns in diesem Gewohnten, wo wir wohnen, nicht mehr auskennen, weil wir uns selbst nicht kennen. Je mehr wir selbst unseren Raum definieren und abgrenzen, je mehr wir uns unsere Grenzen merken, sie auswendiglernen, umso weniger erkennen wir, wonach wir uns ausrichten können. Weiser stehen da, auf den Wegen und auch sonstwo, wir haben sie hier hingestellt, aber sie verweisen immer die anderen, indem sie nur auf uns weisen. Da wir niemanden als uns kennen wollen, werden wir uns selbst aber schon noch kennenlernen! Wir orientieren uns in einer uns bekannten Welt, aber wieso kennen wir sie auf einmal nicht mehr? Alles war doch so selbstverständlich, weil wir geglaubt haben, uns selbst zu verstehen. Aber der Fremde, der fahrende wie der neu ansässige, der versucht, hier seinen Platz zu finden, obwohl er nicht hergehört und “sich nicht auskennt” bei denen, die sich aber selbst nicht kennen, der Fremde, den wir hier nicht haben wollen (und er weiß doch selbst nicht genau, wohin er gehört, und da ist einer, der Gedichte schreibt, der sagt es ja selber, daß es ihm inzwischen ganz gut gefällt, lebenslänglich zu sein, was er nicht sein wollte, ein Unberührbarer, der zu den Unberührbaren gehört), ausgerechnet der, der uns nicht kennt, und den wir nicht kennen wollen, will wissen, will erkannt haben, daß wir uns in unseren dunklen Räumen ausgerechnet ohne ihn (als Wegweiser, als Weiser) nicht auskennen würden? Ein Fremder, der uns im Gewohnten sagen könnte, was das ist, wo wir selber wohnen? Obwohl wir doch selbst das Licht abgedreht haben? Das wäre ja gelacht! Wir haben uns genau gemerkt, wo alles war, bevor wir den Schalter betätigt haben! Vorher war doch noch alles auf seinem Platz, den wir ihm zugewiesen haben, daran erinnern wir uns genau. Wir haben uns doch die ganze Zeit immer nach dem uns Bekannten orientiert, und auf einmal fällt uns auf, daß es, kaum daß das Licht weg ist, uns nicht mehr bekannt ist. Unmöglich! Wir erinnern uns, was wir in diesem uns vorgegebenen und gegebenen Raum getan und wo wir was hingelegt haben. Und auf einmal soll alles ganz anders sein? Das, was jetzt fort ist, vertrieben, abgeschoben, mit einer Einmalzahlung ins Flugzeug gesetzt (und da wird sichergestellt, daß die nicht mehr zurückkommen und nochmal eine Zahlung verlangen, die wir aber nur einmal zahlen wollen! Nein, dafür werden wir nie bezahlen müssen), an dem hätten wir uns orientieren können, an dem hätten wir erfahren können, was wir sind, inmitten von Geistern und Gespenstern, die von uns ständig erzeugt werden (und die am liebsten dunkle Räume bevölkern), aber das haben wir verpaßt, indem wir anderen mit dieser Verachtung ihre nie mehr heilenden Verletzungen verpaßt haben, die sie nicht abstreifen können, denn das sind keine Kleidungsstücke. Die Kleidung bleibt ihnen, die lassen wir ihnen, die können sie mitnehmen. Mehr bleibt ihnen nicht übrig. Doch jetzt kennen wir uns nicht mehr aus, denn genau das, was jetzt fehlt, hätte uns zeigen können, wo wir sind und wo etwas ist, das wir brauchen. Ohne das wir nicht sein können, was wir noch nicht sind.

Credits

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Contextualisation

The Nobel laureate Elfriede Jelinek wrote the epilogue to Ilija Jovanović’s poetry volume Mein Nest in deinem Haar. Moro kujbo ande ćire bal (My nest in your hair). She donated the original text to RomArchive in 2017.

(2018)

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lit_00588

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