Marian Ghiţăs rumänisch verfasstes Buch »Matematica sufletului« (›Die Mathematik der Seele‹) ist eine wunderbare Demonstration mathematischer Poesie, bei der die Gefühle auf das Absurde reduziert werden, die Seele in metaphorischen Gleichungen reagiert und die Abstraktion durch geometrisch denkende Buchstaben einen Körper erhält. Das lyrische Ich fragt sich, was das Leben ist, und die Antwort ist so überraschend wie alle Antworten, die aus der philosophischen Reflexion über den Sinn der menschlichen Existenz entstehen. Das Leben hängt demnach irgendwo zwischen Gottes Schöpfung und dem Fluch, dem das Individuum unterliegt.
Liebe wird als in einer abstrakten Sphäre befindlich betrachtet – jenseits des Natürlichen und jenseits jeglichen menschlichen Gefühls situiert. Als eine Theorie der Trennung, die darauf abzielt, das Ursprüngliche der Erinnerung und das Wesen des Möglichen zu erhalten.
Zwei bevorzugte Themen, die auf die Ebene der Obsessionen und des esoterischen Wissens gehoben werden, sind die Erschaffung der Menschheit und das Gebären. Beides wird hier zum Privileg – die verborgene Pflicht und das absolute Geheimnis der »Frau«, der Königin von Leben und Tod.
Trotz der Tatsache, dass diese Gedichte von der Mathematik der Seele sprechen, was bedeutet, dass die Seele als etwas sehr Abstraktes wahrgenommen wird, wird sie zugleich doch sehr konkret, nimmt verschiedene Formen an und erhält verschiedene Körper: Sie hat Flügel, um zu fliegen und um überwältigt zu werden, sie hat Hände zum Schreiben und Abgehacktwerden, sie spielt und weint wie ein Kind, ist hungrig und durstig, sie ist der Wind und der Regen, ist ein Wagen mit Pferden, sie ist die Sonne und der Mond, aber sie vergisst nie, dass sie unsterblich ist.
Das Gedicht »Descălecare« (›Absteigen‹, siehe S. 51) ist die Allegorie einer in sich verdrillten Liebe, zerrissen zwischen Absorption und Ablehnung. Metaphorisch betrachtet ist diese Liebe ein gekrümmtes Pferd, geboren von der schmerzenden Seele, vor der Türe »der Frau«.
Das Gedicht »Sfârşit de noiembrie« (›Ende November‹, siehe S. 55) ist eine Reflexion über die Identität, eine Introspektion, die sich auf das konzentriert, was das tiefe »Ego« bedeutet: die endlose und zeitlose Rückkehr zum Anfang und zum Ende der Zeit, zum Gedankenflug und zum Schreibwind – aber, mehr denn je, auch zu den dichten Wäldern der Selbstwahrnehmung und für immer zur ethnischen Identität, symbolisiert durch die »staubigen Wägen« und die »mit Worten beschlagenen, geflügelten Pferde«.
Das Gedicht »Gânduri de noapte« (›Nachtgedanken‹, siehe S. 59) ist die Verfluchung eines Lebens voller Schmerzen und Ängste, aber immer noch vom Mondlicht erhellt, der Metapher der Poesie selbst.
Quelle der Textprobe: Ghiţă, Marian. 2017. »Matematica sufletului« [›Die Mathematik der Seele‹]. Bucharest, National Center for Roma Culture – Romano-Kher.