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Widerworte: Geschichten, Gedichte, Reden, Reportagen

Heimat im Wort

Mariella Mehr | Heimat im Wort | Articles | lit_00012

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Kreditora

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Konteksto

Im Juli 1993 fragte die Schweizer Zeitschrift »Brückenbauer« verschiedene Schriftsteller_innen, Politiker_innen und Philosoph_innen, was ihnen der Begriff »Heimat« bedeute. Mariella Mehr schrieb dazu die Geschichte »Heimat im Wort«. (Siehe dazu auch die Lesung am Zweiten Jenischen Kulturtag 2017).

(Nina Debrunner)

Quelle
Mehr, Mariella. 2017. Widerworte. Geschichten, Gedichte, Reden, Reportagen. Ed. by Christa Baumberger und Nina Debrunner. Zürich, Limmat Verlag, pp. 133–34.

Inskripcija

Heimat im Wort“ (1993)

Mein Onkel, der Korbflechter Alois, war ein begnadeter Geschichtenerzähler. Sein Vorrat an Anekdoten, Geschichtchen und Geschichten begeisterten Kneipengänger, die Alois bei einem Glas Wein oder einem Kafifertig zu unterhalten pflegte, ebenso wie Verwandte und Freunde, die er, nachts am Lagerfeuer, mit Witz und Weisheiten beschenkte. Witze, Weisheiten, die zwar das harte Leben der Fahrenden nicht eigentlich erklärten, es jedoch erträglicher machten und diese Stunden am Lagerfeuer zu Sternstunden erhoben.
Als der Korbflechter Alois an Krebs erkrankte, wurde er zwangsweise ins Bezirksspital eingeliefert. Gerade so, als wäre es den Fahrenden, denen man ja bekanntlich zu Lebzeiten genug Steine in den Weg legt, über die sie dann meist schmerzhaft stolpern, auch nicht vergönnt, ohne Steine auf dem einsamsten aller Wege unbehelligt zu sterben. Aus war’s mit dem Geschichtenerzählen, aus mit den Sternstunden am Lagerfeuer, aus mit den Bierchen, dem Wein und dem Kafifertig. Alois verstummte, zerfiel in seinem weissen Spitalbett. Sein Lebensmotto: Alles weiss der Aloweis, mit dem jede seiner Geschichten begann und endete, verlor in den grauen Gängen des Spitals den Sinn, da dieses keinen Lehrgang für heiteres Sterben anzubieten hatte, auch nicht für meinen Onkel, der so heiter zu leben wusste. Dort, wo man Geschichten erzählt, dort ist Heimat, sagte mein Onkel, ein Regenbogen, sagte er, der uns mit allem und allen verbindet.
Aber dann hat mein Onkel dem Leben eine letzte Geschichte abgetrotzt, ist abgehauen, hat das Spital durch den Hinterausgang verlassen mit nichts als dem Spitalhemd am Leib und einem alten Mantel, den er in besseren Zeiten als Kälteschutz nachts in den verschiedensten Heugaden benützte. Ist abgehauen, vertschanet, wie es in der Sprache der Fahrenden heisst, hat den Ort aufgesucht, der ihm am meisten bedeutete, den Mellingerwald, um dort, am Waldrand, zu sterben. Nicht einsam, nein, denn dort am Waldrand stand damals ein Haus, und in dem Haus lebte eine alte Frau, seine Maja, wie er die Freundin nannte. Eine seiner Zuhörerinnen die sich dann mit Käse und Brot bedankte, manchmal auch mit einem Stück Speck oder einem Tschoopen den ihr verstorbener Mann zurückgelassen hatte. Zur Maja trieb es den Alois, ihr seine allerletzte Geschichte zu erzählen, die Geschichte seines Todes. Er soll, so versicherte Maja später, friedlich gestorben sein, getröstet, wie es im Volksmund heisst. Das Wort hat ihn aufgenommen.

1993,

Germaniako

Detalura

Autorija
Bibliografijako nivelo
Articles
Čhib
Objektesko numero
lit_00012

Arxivako kotor